Der Weihnachtskarpfen, von Agathe von Wedel
Weihnachten 1985 kam Tante Hanne Müller wieder aus ihrem geliebten Michendorf nach Minden angereist. Sie hatte viele Pfefferkuchen, Äpfel und gute Sachen in ihrem Handgepäck. Sie kam mit bester Laune an und war voller Erwartung auf die nächsten Tage. Schwierig war die im Gästebuch so gepriesene Kocherei. Bei den Schwiegereltern gab es Heilig Abend immer Kartoffelsalat und so viel Würstchen, wie man essen konnte und wollte (es wurden meistens 2 berechnet). In Schlesien gab es Sauerkraut und Braten, Weißwurst, Kassler oder Karpfen. Ich habe mir dann so geholfen: in einem Jahr kochte ich für die Schlesier, also Vater und Tante Hanne, und im anderen für die Ostfriesen, also für die Schwiegermutter und meinen Mann Sievert.
Dieses Weihnachten waren mal wieder die Schlesier dran. Ich kaufte einen wunderbaren Karpfen, setzte ihn auf eine Tasse und diese auf ein Backblech. Er wurde nach der richtigen Behandlung auch tatsächlich blau und weich und stand trotzdem wohlgeformt auf dem Backblech. Die Kartoffeln waren fertig, die Butter ausgelassen, der grüne Salat aufs Feinste abgeschmeckt, und jetzt als Letztes musste noch der Karpfen auf die Fischplatte verschoben werden. Oh, Wunder! Auch das war gelungen! Hoch zufrieden holte ich meine Lieben zum Essen.
Mutter Wedel schreitet feierlich zu Tische und äußert sich zufrieden, Tante Hanne erscheint, schaut, stockt und sagt nichts; mein Vater betritt den Raum, er überblickt alles, sieht den Tisch und beide, Tante Hanne und Vater, sagen beinahe zeitgleich: „Und wo ist das Sauerkraut?“ Fassungslos schauen die Mutter Wedel, Sievert und ich die beiden an.
S A U E R K R A U T ? Und Karpfen? Die Schlesier waren sich total einig, dass Weihnachtskarpfen immer mit Sauerkraut gegessen würde. Tante Hanne wusste auch gleich mehrere Rezepte, welches Sauerkraut dazu passe. Ich stellte also meinen Karpfen wieder in die Backröhre und alles andere auch warm, lief in den Keller und holte eine Dose Sauerkraut rauf (die ich zum Glück da hatte) stellte meinen Dampftopf auf den Herd und bereitete für die beiden Sauerkraut. Bis das Kraut soweit weich war spendierte Vater von seinem Weihnachtsschnaps jedem ein oder zwei Schnäpschen.
Ich muss gestehen, an diesem Weihnachten stellte ich mich zu den Ostfriesen und wollte zum Karpfen nur Salat essen. Die Entscheidung war auch gut, denn als ich den Dampftopf viel zu hastig und mit viel Kraftaufwand öffnete, flog die Hälfte des geliebten und begehrten Krautes rund um mich herum. Auf den Herd, an die Wand, auf den Boden, alles verstreute sich in Windeseile. Ich sammelte ein, was einzusammeln war, sodass es gerade für die Schlesier reichte und diese waren nun auch tief zufrieden. Es wurde dann noch ein ausgesprochen fröhlicher Heiliger Abend.
Ins Gästebuch schrieb Tante Hanne:
Wieder, wie in jedem Jahr waren Vater, Mutter, Tante da,
feierten das Weihnachtsfest, wie Vaters Dank es hören lässt.
Dem Danke für die Weihnachtskerzen schließ ich mich an von ganzem Herzen!
Weihnachtskuchen, Weihnachtsbraten sind Agathe gut geraten.
Mohnklöße und der gute Wein, schmeckten dem Vater äußerst fein.
Wir danken, danken, danken sehr. Kommen gerne wieder her! Eure Tante Hanne aus Michendorf vom 22.12. - 2.1.1986